“Natürlich spielt der Medienwandel eine Rolle!”

Frankfurter Buchmesse
4 min readMay 18, 2018

Über den Deutschen Jugendliteraturpreis aus Jury-Sicht

Birgit Müller-Bardorff (Redaktion Journal und Kultur Augsburger Allgemeine)

Was macht gute Jugendliteratur aus? Und was schlechte? Dazu sprechen wir mit der Kulturjournalistin Birgit Müller-Bardorff. Sie leitet die Jury des Deutschen Jugendliteraturpreises, der jährlich am Messe-Freitag (12. Okt. 2018, 17:30 Uhr, Saal Harmonie) auf der Frankfurter Buchmesse verliehen wird.

Wie hat sich die Arbeit in der Kritiker-Jury in den letzten Jahren verändert?

Unsere Arbeit richtet sich nach einem Kriterienkatalog , der die Beurteilung unter mehreren Aspekten vorsieht: der Thematik und Erzählweise ebenso wie der Sprache. Hinzu kommen spezifische Aspekte bei Bilder- und Sachbüchern. Aber natürlich ist ein Urteil über Bücher immer auch von der subjektiven Perspektive bestimmt. Das macht ja unter anderem auch die Qualität von Literatur aus: dass sie berührt und betrifft, dass sie uns interessiert und emotional anspricht. Deshalb ist die Auswahl der Nominierungen und Preisbücher sicher auch von der Zusammensetzung der Jury abhängig, von den einzelnen Mitgliedern. Mit jedem Wechsel in der Jury hat sich die Arbeit dadurch natürlich verändert, weil die Jurymitglieder auch verschiedene Schwerpunkte setzen. Etwa in Hinsicht auf realistische oder fantastische Literatur, auf die Frage nach der Aktualität oder auch die Möglichkeit der didaktischen Vermittlung. Die Diskussionen in der Kritiker-Jury leben vor allem auch davon, dass die Juroren aus unterschiedlichen Bereichen stammen, also Wissenschaftler ebenso dabei sind Journalisten oder Bibliothekare und Buchhändler.

Sind die Kriterien für gute Jugendliteratur immer dieselben oder verändern sie sich durch den Zeitgeist und Medienwandel?

Literatur steht immer auch im Zusammenhang mit der Zeit, in der sie entsteht, das gilt ebenso für deren Bewertungskriterien. Deshalb spielt natürlich der Medienwandel eine Rolle. Inwieweit er etwa in Kinder- und Jugendbüchern als relevantes Thema aufgegriffen wird, oder wie mit spezifisch digitalen Elementen in der Literatur gespielt wird. Aber auch in der Umkehr, wenn in einem Buch seine ihm eigenen spezifischen Möglichkeiten so zum Einsatz kommen, wie es in einem anderen Medium nicht möglich wäre. Im vergangenen Jahr erhielt zum Beispiel mit „Hier kommt keiner durch“ ein Bilderbuch den Preis, in dem der Falz in der Mitte zum inhaltlichen wie auch gestalterischen Element wurde.

Dass die Kriterien einem Wandel unterliegen, zeigt aber auch schon ein Blick in die Geschichte. Während Kinder- und Jugendliteratur früher vor allem nette Unterhaltung sein und der Erbauung dienen sollte, rückte im 20. Jahrhunderts auch deren literarisch-ästhetische Qualität in den Fokus. Ein anderes Beispiel ist der belehrende und gesellschaftskritische Anspruch, an dem sich die Kinder- und Jugendliteratur in den 1970er Jahren messen lassen musste. Der hat sich mittlerweile eher ins Gegenteil verkehrt. Die Qualität von Kinder- und Jugendbüchern sehen wir heute oft darin, dass sie, statt eindeutige Antworten zu geben, Fragen stellen an die Leser und Betrachter, sie zum Weiterdenken und zur eigenen Haltung anregen.

Mal anders herum gefragt: Was macht heute schlechte Literatur für die Jugend aus? Was ärgert Sie an dem Genre?

Vor allem Rollenklischees, die von den üblen Vätern bis hin zu diesen pfiffigen und patenten Mädchen reichen, die in so vielen Kinderbüchern im Mittelpunkt stehen und immer Außerordentliches vollbringen, dabei aber weder berühren noch den Leser in Beziehung treten lassen zu ihnen. Eindimensionale Plots und Handlungsstereotypen, die nach gängigen Mustern verlaufen und vorhersehbar sind. Jugendslang, mit dem Autoren meinen, ihrer Zielgruppe nahe zu kommen, sich dabei aber nur vermeintlich locker anbiedern. Bücher mit pädagogischem Anspruch, die sich wie Gebrauchsanweisungen für richtiges Verhalten lesen. Alles in allem Bücher, die ihre Leser nicht ernst nehmen und ihnen das verwehren, was gute Literatur möglich macht: über den eigenen Horizont zu blicken.

Ärgerlich ist aber auch, dass man nach den guten Büchern, die Jungen gerne lesen und sie ansprechen, in der großen Zahl von Neuerscheinungen suchen muss.

Kürzlich gab es einen Appell von Leseförderungen, junge Menschen mit Literatur für Politik zu begeistern. Was halten Sie von mehr politischen Inhalten?

Politik in all ihren Themenbereichen und Fragestellungen gehört zur Lebenswirklichkeit von Kindern und Jugendlichen, wirkt in die Familien hinein und ist von daher auch ein relevantes Thema der Kinder- und Jugendliteratur. Tatsache ist nun einmal, dass Kinder und Jugendliche in ihrem Umfeld auf Gleichaltrige treffen, die aus ihrer Heimat fliehen mussten oder dass sie sich Gedanken darüber machen, ob sie Vegetarier werden, weil sie die Massentierhaltung ablehnen. Auch Ausgrenzung, Rassismus und neue Familienbilder sind Phänomene, denen Kinder und Jugendliche in ihrem Alltag immer wieder begegnen, die sie verwirren, verstören, beschäftigen. Warum sollen sie also nicht auch in Kinder- und Jugendbüchern Thema sein? Und noch etwas: Sich mit politischen und gesellschaftlichen Fragen zu beschäftigen ist Teil der Persönlichkeitsbildung, die für die Entwicklung und Selbstbestimmung von Heranwachsenden von Bedeutung ist. Deren Thematisierung in der Literatur kann sie dabei unterstützen. Wichtig ist allerdings, dass dies altersspezifisch geschieht. Als Beispiel sei hier das Bilderbuch „Hier kommt keiner durch“ genannt, das schon Kleinkindern augenfällig, aber mit viel Witz vermittelt, wie absurd blinder Gehorsam ist und dass es durchaus gerechtfertigt sein kann, Autoritäten zu hinterfragen.

Ein Ausblick: Wie wird sich die Jugendliteratur in den nächsten Jahren verändern?

Darauf bin ich auch gespannt. Im besten Fall wird sie die Vielfalt, die in unserer Gesellschaft immer größer wird, abbilden.

Ich danke Ihnen für das Gespräch!

(Das Interview führte Frank Krings, PR Manager Frankfurter Buchmesse.)

Tickets zur Frankfurter Buchmesse sind hier erhältlich.

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